Das Bundesverfassungsgericht verhandelt am 23. und 24. April 2024 über die Wahlrechtsreform der »Ampel-Koalition«. Geklagt hatten CDU, CSU und Linkspartei sowie rd. 4000 Bürger/innen.
Im Wesentlichen geht es um zwei Streitpunkte:
Um den Bundestag zu verkleinern entschied die Regierung aus SPD, Grüne und FDP, die Überhangs- und Ausgleichsmandate abzuschaffen. Hierzu wurde die Regelung in das Wahlgesetz geschrieben, daß Direktmandate nur dann zugeteilt werden, wenn sie durch die Zahl der Mandate gedeckt ist, die einer Partei nach Zweitstimmen zustehen. Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate, als ihr nach Zweitstimmen zustehen, werden den Kandidaten, die die niedrigsten Wahlergebnisse haben, die Direktmandate nicht zugeteilt.
Überdies wurde durch die Regierungsfraktionen im Vorfeld der 2. und 3. Lesung überraschend die Grundmandatsklausel abgeschafft. Diese besagt, daß eine Partei auch dann entsprechend ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag einzieht, wenn sie drei Direktmandate gewinnt. Die Streichung dieser Regelung verkleinert oder vergrößert den Bundestag nicht. Gewinnt eine Partei drei oder mehr Direktmandate, ohne mehr als fünf Prozent der Stimmen zu gewinnen, werden auch diese nicht zugeteilt. Auch hiergegen geht die CSU vor, obgleich in Bayern eine ebensolche Regelung besteht.
Nach der hier vertretenen Auffassung, die auch im Buch »Wahlen?« vertieft wird, könnte das Bundesverfassungsgericht beide Einwände abweisen. Die Regelung, daß die Direktmandate nur dann zugeteilt werden, wenn sie durch die Zweitstimmen gedeckt sind, ist nicht widersinnig und den Wähler/innen im Vorfeld der Wahl bekannt. Zwar konnten die Wähler/innen bislang stets darauf vertrauen, daß der Direktkandidat im Wahlkreis, der die meisten Stimmen bekommt, das Mandat gewinnt, gleichwohl aber ist durch die Festlegung der Bedingung im Vorfeld der Wahl die Nichtbesetzung einzelner Direktmandate keine unvorhergesehene Überraschung für die Wähler/innen und die Kandidat/innen.
Im Urteil zur Grundmandatsklausel entschied das Bundesverfassungsgericht bereits, daß der Wahlgesetzgeber, dem stets ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt wird, eine Regelung wie die der Grundmandatsklausel treffen kann. Dies deutet bereits darauf hin, daß auf eine solche Regelung von Verfassungs wegen kein Anspruch besteht. Einzig Regelungen, die die Sperrklausel auf über fünf Prozent anheben, seien mit der Verfassung nicht vereinbar. Die Streichung der Grundmandatsklausel hebt diese Sperrklausel nicht an, sondern bekräftigt sie allenfalls.
Ins Gespräch gebracht wurde eine Absenkung der Sperrklausel, weil ansonsten zu viele abgegebene Wählerstimmen nicht an der Besetzung der Mandate im Bundestag beteiligt würden. Auch hier stellt sich die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht diesen Umstand in der beschriebenen Dramatik sehen wird. Zwar hatte im Jahr 2013, als FDP und AfD knapp an der Sperrklausel scheiterten, ein Anteil von 15.8 Prozent der Stimmen keinen Einfluß auf die Zusammensetzung des Bundestages. Dies stellte jedoch einen einmaligen Ausreißer dar. Noch bei der Bundestagswahl 2009 lag der Anteil dieser Stimmen bei 6.0 Prozent. Im Jahr 2017, also nachdem dieser Anteil auf 15.8 Prozent angestiegen war, fiel die Zahl der Stimmen ohne Einfluß auf die Sitzverteilung auf 5.1 Prozent und lag bei der Bundestagswahl 2021 bei 8.6 Prozent. Wäre im Jahr 2021 die Linkspartei allerdings nicht über die Grundmandatsklausel in den Bundestag eingezogen, läge dieser Wert bei 13.5 Prozent.
Auf der anderen Seite muß in Betracht gezogen werden, daß die Grundmandatsklausel seit der Wahl 1990 nur zwei Mal zum Zuge kam, nämlich als die PDS im Jahr 1994 über die Grundmandatsklausel in den Bundestag einzog und die Linkspartei bei der Wahl 2021.
Somit bleibt hier im Ergebnis wohl zu erwarten, daß das Bundesverfassungsgericht die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition im großen und ganzen nicht beanstanden wird.